Reformation - damals und heute

82 genwart ihre Konsequenzen haben und haben müssen. Man begibt sich also auf eine Spurensuche, um die Implikationen des Denkens und Handelns Pallottis und seiner Spiritualität entfalten zu können. Dann erst lässt sich in dem Römer des 19. Jahrhunderts ein visionärer Geist erkennen. Die Interpretation geht folglich über die Aussageabsicht des Autors, den historischen Vinzenz Pallotti, hinaus. Sie will aus seinen Anliegen den Horizont eröffnen; konkrete Handlungsmöglichkeiten mögen daraus erwachsen – beides wäre im Sinne Pallottis, der in man- cherlei Hinsicht ein Pragmatiker war. Herde und Hirt im gegenwärtigen Empfinden Der biblische Vergleich der Menschen mit der einen Herde und dem einen Hirten ist – trotz seiner bukolischen Idylle – als Identifikationsmoment schon lange nicht mehr geeignet – weder für Christinnen und Christen noch für andere, und dies nicht nur deshalb, weil der unmittelbare Be- zug zur Landwirtschaft für den Großteil der Bevölkerung, mindestens in unseren Breiten, nicht mehr vorhanden ist. Da hilft auch der bewe- gende Ausdruck der Erfahrung des Betenden nichts, der sich bei einem fürsorgenden Gott geborgen weiß: „Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser…“ (Ps 21). Unbehagen bis Ärgerlichkeit herrschen heute vor, versucht man in Seelsorge und Katechese das Bild von Herde und Hirt aufzugreifen. Dies gründet weniger im Ver- gleichsmoment des sorgenden Hirten (vielleicht auch darin, aber das nur sekundär), als vielmehr in den – mit dem sprichwörtlichen Ruf der Dummheit behafteten – Schafen, deren triebhafte, zu Differenzierung und Selbständigkeit unfähige Herdenorientierung einem spätestens seit Friedrich Nietzsches Diagnose über den Menschen als Herdentier nachhaltig im Bewusstsein ist. Dass es in verschiedenen Ortskirchen heute nicht mehr nur die sogenannten „Hirtenbriefe“ als bischöfliche Rundschreiben gibt, sondern auch an den Bischof gerichtete „Herden- briefe“ verfasst werden, ist lediglich ein durchaus markantes Indiz dafür und zeigt, dass aus passiven Empfängern von Vorschriften, aus der sogenannten „hörenden Kirche“ – damals der „lehrenden Kirche“, der Hierarchie, gegenübergestellt – gleichwertige, taufbewusste Gesprächs- partner geworden sind.

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