Reformation - damals und heute

69 werden konnten und die es unter Schmerzen wohl auch heute noch sind“, die Kirche „missfällt“ 7 , wird bei Görres mit einer detaillierten Situationsbeschreibung kirchlicher Wirklichkeit versehen: „Die Kirche steht […] auch bei eifrigen Katholiken im Verdacht, in wichtigen Berei- chen mehr von Jesus und dem Evangelium weg- als zu ihm hinzufüh- ren; insbesondere im Bereich der Liebe, der Ehe- und Sexualmoral, der politischen und sozialen Einstellungen, aber eigentlich in der ganzen Gewissensbildung. Das Erschreckende in der Situation wird sichtbar im todesnahen Siechtum, in der Schwäche und Leblosigkeit des Christli- chen in unseren Herzen. Es ist in vielen von uns nicht mehr als Leben- digkeit und ausstrahlende Freude gegenwärtig, sondern nur noch als mühsame Pflichterfüllung, sozusagen als bürokratische Verwaltung des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. […] So fließen breite Ströme des Misstrauens in die Kirchen ein. So kommt es zu der Erscheinung von Teilidentifizierung, die ja auch ihre berechtigten Seiten hat, ferner zu einem Loyalitätsverlust und zur Identitätsspaltung. Oft sind das ge- sunde Reaktionen auf frühere Überidentifikationen, Überloyalitäten und falsche Identitätsbildungen, wie bei jener legendären Konvertitin, die gesagt haben soll: Ich glaube alles, was die katholische Kirche zu glau- ben lehrt, ob es wahr ist oder nicht. Kurzum, wir fühlen uns nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, der Kirche, wie sie geht und steht, im großen Bereich ihrer Fehlbarkeit genau auf die Finger zu sehen. […] Es ist verständlich, dass solche Selbstkritik in der Kirche von Zeit zu Zeit wie ein Vulkan explodiert. […] In den christlichen Kirchen brodelt es, als sei der Teufel los. Langsam, aber anscheinend sicher, bluten sie aus, werden von ihren Gläubigen lautlos verlassen. Im Inneren rumort laut- starker Protest. Eine Kluft tut sich auf zwischen Papst und Hierarchie auf der einen, Priestern, Kirchenvolk und Kirchenjugend auf der ande- ren Seite. Die Predigtsprache erreicht oft den Hörer, die Elternbot- schaft die Kinder nicht mehr. Der Religionsunterricht scheint in den Schlachten und Rückzügen der Nahkampfpädagogik zu erliegen. Der Nachwuchs der Priesterseminare und Orden bleibt aus, viele verlassen das sinkende Schiff. Die Zurückgebliebenen können ihrer Treue nicht recht froh werden. Die katholische Jugend merkt es schon aus Un- kenntnis gar nicht mehr, wenn sie Dogma, christliche Ethik und große 7 Ratzinger, Josef: Eine Gemeinschaft in steter Erneuerung, 124 f.

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