Reformation - damals und heute

44 Menschen zu stärken, ihn von allen autoritären Vermittlungsinstanzen zu befreien und ihn zu befähigen, sich selbst ein Urteil zu bilden und selbstverantwortlich zu handeln. In diesem Sinne werden aufgeklärtes Denken, die weitreichende und gut ausgebaute Bildung und vor allem eine demokratisch und selbstverantwortliche Gesellschaft letztlich als Folge der Reformation verstanden – und das nicht nur in Deutschland, sondern in Europa, ja im Grunde in vielen Teilen der Welt. 2. Die Reformation: eine Erfolgsgeschichte? Ist das wirklich so? Kann man die Reformation als eine Art Aufklärung verstehen, kann man ein ausschließlich positives Narrativ der Reforma- tion weitergeben, in dem die Reformation als eine Art Erfolgsgeschich- te erzählt wird, in deren Folge die Menschen gebildeter, eigenständiger und reflektierter, fleißiger, ordentlicher und sauberer geworden sind? Die Übertreibung macht deutlich, dass diese Bewertung zu simpel ist, zu undifferenziert und vor allem zu blauäugig. So einfach, wie es die Beschreibung der verschiedenen konfessionellen Milieus in den 1960er Jahren vielleicht noch nahelegte, war es und ist es eben dann doch nicht. Die Konfessionskriege, das unzählige Leid, das Menschen unter- schiedlicher Konfessionen einander angetan haben, spricht Bände ge- gen eine reine „Erfolgsbilanz“ der Reformation. Die Folgen der Re- formation sind so vielfältig und an vielen Stellen auch zwiespältig, dass man bei allem Verständnis für die Stärkung der eigenen Identität auch bei den Reformationsfeierlichkeiten im kommenden Jahr einen realisti- schen Blick bewahren und vor allem auch die Entwicklungen außerhalb und neben der reformatorischen Bewegung beachten sollte. Die Protestanten gibt es ebenso wenig wie die Katholiken. Der Begriff „Protestanten“ entstand 1529 anlässlich der Protestation der evangeli- schen Stände gegen die Verhängung der Reichsacht über Martin Luther und setzte sich im 18. Jahrhundert allgemein als Bezeichnung der An- hänger der Reformation durch. Aber allein die Vielzahl der Reformato- ren der ersten Stunde zeichnet ein komplexes Bild. Luther, Calvin, Zwingli – sie stehen für jeweils eigene Positionen mit eigenen Schwer- punkten und Traditionen. Der Protestantismus hat sich selbst in unter- schiedliche Konfessionen, in verschiedene geistige, politische und sozia- le Milieus verzweigt, hat diverse religiöse Erneuerungsbewegungen her-

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